Zeitzeugenberichte

Inhalt

III. Zeitzeugenberichte ehemaliger Zwangsarbeiter

Aus nachvollziehbaren Gründen wurden die Erlebnisberichte der ukrainischen Zwangsarbeiterinnen Sinaida Belosub, Nadja Kirdan Gorb, Praskowie Iosifowna Golub, Anna Nikulnikowa, Hanna Pindel, Evdokja Mereschko, Alexandra Timtschenko, Maria Pljuschtschina und Irina Roschtschina zusammengefasst. Die Berichte verdeutlichen eindrucksvoll die Lebensumstände der Zwangsarbeiter.

Die Berichte sind im Stadtarchiv Bobingen einsehbar. Sie stehen in Zusammenhand mit der Anmeldung einer „Entschädigung“ durch die Stiftung „Erinnerung, Veranwortung und Zukunft“. Anfangs hatten die Zwangsarbeiter von sich aus nach 56 Jahren den Nachweis ihrer Zwangsarbeit zu erbringen.


1. Transport nach Deutschland

Meist werden die Mädchen per Gestellungsbefehl durch die Dorfältesten ausgewählt, oder aber durch Razzien auf offener Straße, von Märkten oder Dorffestlichkeiten aufgegriffen. Wenn der Aufforderung zur Bereitstellung von Arbeitskräften keine Folge geleistet wurde, erfolgte ab Oktober 1942 das Niederbrennen von Gehöften bzw. ganzer Dörfern als Vergeltung. Die anfänglich versuchte Anwerbung von Arbeitskräften erwies sich als wenig erfolgreich[1].

Nach Aussagen der in Bobingen tätigen Zwangsarbeiter wurden sie im Dezember 1942 in Viehwaggons nach Deutschland deportiert, Essen war  mitzubringen. Der Transport dauerte des Öfteren bis zu 14 Tagen. Zunächst erfolgte der Transport in ein Übergangslager im Generalgouvernement, d.h. im besetzten Polen. Dort mussten sie sich der entwürdigenden Prozedur der Entlausung unterziehen, ehe sie dann in Sammeltransporten in die Durchgangslager Moosburg, Dachau oder München-Giesing von den zuständigen Arbeitsämtern auf die einzelnen Betriebe verteilt wurden[2].

Zum Teil wurden die Jugendlichen, die häufig nicht älter als 15 Jahre waren, unterwegs zum Ernteeinsatz (Hopfen, Kartoffeln) eingesetzt; ca.35 junge Frauen kamen aus Pokrowskoje, ca. 15 Mädchen aus Pawlowgrad.

2. Verteilung auf die Betriebe

In den Durchgangslagern Moosburg, Dachau, München-Giesing erfolgte die Verteilung der Zwangsarbeiter, die nach Empfinden der Mädchen wie auf einem Sklavenmarkt ablief. Familien wurden zum Teil auseinandergerissen. Maria, eine Russlanddeutsche fungierte als Dolmetscherin, sprach mit den Mädchen aus Pakrowskaja und brachte sie nach Bobingen[3]. Nach den Aussagen von Lemiszko Praskowie Iosifowna, geb. Golub war es bei einem späteren Transport ein Mann, der die Zwangsarbeiter dort abholte und nach Bobingen brachte[4].

3. Das „Russenlager"[5]

Die drei Baracken lagen im Wald, ca. 2 km von der Fabrik entfernt. Es handelte sich um 2 Frauenbaracken und 1 Männerbaracke, die voneinander mit Stacheldraht abgetrennt waren, mit jeweils einem Appellhof. In der Männerbaracke war in einem Zimmer das Wachpersonal untergebracht, vier Kriegsinvaliden. In der Männerbaracke hausten in einem der Zimmer auch  40 Kriegsgefangene aus der Sowjetunion, die schlimmer als jede andere Gruppe behandelt wurden. Das gesamte Lager sei mit Stacheldraht umzäunt gewesen.

Bei Ankunft der ca. 35 Frauen aus Pakrowskaja trafen sie im Waldlager auf etwa 200 UkrainerInnen und RussInnen, die bereits vor ihnen in Bobingen angekommen waren. Jeder neu angekommene Zwangsarbeiter erhielt eine Nummer, wurde fotografiert und erhielt einen Arbeitsausweis. Tschechen und Franzosen befanden sich ebenfalls im Lager. Jede der Baracken konnte ca. 150 Personen beherbergen, mit ca. 30-35 Personen in einem Raum. Es gab zweistöckige bzw. dreistöckige Betten und saubere Bettwäsche. Die einzelnen Nationalitäten wurden jeweils getrennt voneinander untergebracht.

Oben: RAD-Baracke, Modulkastenprinzip ZS VDI 88; unten Querschnitt RAD-Baracke aus Originalzeichnungen 1936. Ein solcher Barackentyp wurde beispielsweise in Meitingen bei der Siemens-Plania verwendet.


Jeden Morgen wurden die 250 bis 300 Personen zur Fabrik geführt. Ab Mitte 1943 wurde den zivilen ZwangsarbeiterInnen der Ausgang ins Dorf erlaubt. Sie besuchten sonntags die Kirche, schämten sich aber wegen ihres Ostabzeichens als Zeichen der Diskriminierung. Der Zusammenhalt der Mädchen sei stark gewesen, das Heimweh ebenfalls.

Oberste Reihe die Deutschen Martha oder Berta, Mina, der Tscheche Wenzel, die deutsche Lina, die alle in der Küche arbeiteten; II. Reihe: Marusia, Grunia und Anna, untere Reihe: Anja, Anna Nikusia, Köchin in der russischen Küche (soweit noch durch Anna Nikusia erinnerlich) Foto aus dem Jahre 1945


4. Arbeitsbedingungen

Täglich wurden die Ostarbeiter*innen unter Bewachung zur Firma und abends wieder ins Lager zurück geführt, ihre Arbeit begann um 6.00 Uhr und endete um 18 Uhr, als „Untermenschen“ wurden sie nur mit niederen Arbeiten betraut. In der Fabrik wurden u.a. Fallschirme produziert, die Garne mussten mit Säure getränkt werden. Die meisten Frauen waren in der Zwirnerei, Spinnerei, Haspelei, oder in der Kantine beschäftigt. Die meisten Männer aus der Ukraine bzw. Russland[6] arbeiteten im Hof, im Kesselhaus, bei der Viskose oder als Handwerker.

Viele männliche Arbeiter wurden zur Dynamit AG abkommandiert. Dort arbeiteten auch die russischen bzw. ukrainischen  40 Kriegsgefangenen ab Mai 1942, im Juli 1942 waren es 74, im Oktober 95 Russen bzw. Ukrainer, im Januar 1945 schließlich arbeiteten 131 russische Zwangsarbeiter in der Dynamit AG. Uns sind weitere 23 Zwangsarbeiter aus anderen Nationen namentlich bekannt, die ebenfalls in der Dynamit AG arbeiten mussten, Franzosen, Tschechen , Italiener, drei Polinnen, ab September 1944 auch eine Estin und eine Jugoslawin.[7].

5. Essen in der Kantine

Es gab für die „Ostarbeiter“ täglich Kohl, Rüben, manchmal Bohnen, Tee und 100 gr. Brot. Fleisch und Milch waren für sie nicht vorgesehen. Die Kantine für Ukrainer befand sich im Hof der Fabrik neben der deutschen Kantine, war aber durch Stacheldraht abgetrennt. Die Qualität der angebotenen Mahlzeiten war miserabel, oft wurden verdorbene Lebensmittel angeboten. Die Mittagspause dauerte ½ Stunde.

Der Koch war der Ukrainer Michael Harbus, der später bei einem Bombenangriff ums Leben kam und mit der Zwangsarbeiterin Sinaida Belosub ein Kind hatte, das erst nach seinem Tod am 5. Mai 1944 geboren wurde[8].

6. Entlohnung bzw. Ausbeutung [9]

Am Monatsende erhielten die Zwangsarbeiter*innen einen Umschlag mit der Aufschrift: „Verdienst und Lohnabzüge“. Vom Verdienst wurden die Kosten für Wohnstätte, Essen, Licht, Wasser und sämtliche Dienste abgezogen. Manchmal blieb Geld vom Lohn übrig, wenn nicht, wurde die „Restschuld“ vom nächsten Monatsgehalt abgezogen. Von Geld konnnte man ohnehin kaum etwas kaufen. In der Fabrik arbeiteten auch Tschech*innen, Französ*innen und Russ*innen.

 

7. Verhätnis zu den Deutschen

Das Verhältnis gestaltete sich unterschiedlich, bei älteren Personen trafen die Mädchen auf größeres Verständnis und Empathie, manchmal steckten ihnen Deutsche heimlich Essen zu.

Dr. Schumacher war im Betrieb der Chef, als Lagerleiter fungierte Herr Kugelmann, der sehr streng und ernst auftrat,  alle fürchteten ihn. Bei den Männern setzte er des Öfteren seine Peitsche ein


8. Rücktransport in die Heimat

Nach der Befreiung durch US-amerikanische Truppen wurden die Mädchen ab Juli 1945 mit Bussen nach Dresden verbracht, dort erfolgte der Weitertransport durch die Rote Armee. In Filtrationslagern an der ukrainischen Grenze führten die Truppen eine Befragung durch. In ihrer Heimat konnten die Mädchen beruflich kaum Fuß fassen, eine Ausbildung war ihnen wegen ihrer Deportation verwehrt. Sie wurden als Kollaborateure, manchmal sogar als Prostituierte (z.B. Alexandra Timtschenko) diffamiert. Oft wurden sie bei der Arbeitssuche zurückgewiesen und mussten sich rechtfertigen. Bei ihrer Arbeitssuche verschwiegen sie deshalb ihre Deportation nach Deutschland. Erst unter Präsident Viktor Juschtschenko, der öffentlich bekannte, dass seine Eltern Zwangsarbeiter waren, ergab sich ein Wandel im öffentlichen Bewusstsein[10]. 

Einige von ihnen erhielten ab 2001 für ihre Zwangsarbeit in Deutschland von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ eine „Entschädigung“. Für landwirtschaftliche Arbeiter*innen gab es 750 Euro, für Zwangsarbeit in der Fabrik 1.500 Euro - für jahrelang entgangene Jugend, Ausbildung, Demütigung und Erniedrigung[11].




[1] Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999, S. 182 ff.

[2] Staatsarchiv Augsburg, Reg. 17369.

[3] Stadtarchiv  Bobingen, Brief von Anna Nikulnikowa an Thomas Steck vom 17.5.2002

[4] Stadtarchiv Bobingen, Brief von Lemiszko Praskowie Iosifowna, geb. Golub, geb. 21.10.1924

[5] Die Existenz dieses Waldlagers wird bestätigt durch die Aprilausgabe der Werkszeitung von 1943. Dort ist von den folgenden Wohnlagern der IG Bobingen die Rede: Männerlager, Lindauerstraße, Frauen-Waldlager, Ostarbeiterlager (noch Straßberg): Stadtarchiv Bobingen, Das Leben und Wohnen im IG Lager Bobingen, Werkszeitung April 1943.

[6] Vgl. Monika Hermann, Das Werk der Dynamit AG in Bobingen 1937-1945. Zulassungsarbeit zur ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Hauptschulen, München 1991, S.174

[7] Namenslisten befinden sich im Anhang dieser Arbeit.

[8] Brief Sinaida Lisenko, geb. Belosub an Thomas Steck, Archiv Bobingen. Wie ca. 35 weitere Personen wird sie aus dem Dorf Pokrowskoje in der Ukraine nach Bobingen deportiert.

[9] Genaue Angaben zu den Lebens- und Arbeitsverhältnissen gibt Anna Nikulnikowa, geb. am 14.4.1922 in Georgien, die ebenfalls vom Dorf Pakrowskaja nach Bobingen verschleppt wird.

[10] Siehe https://www.siedlung-ludwigsfeld.de/aktuelles/viktorjuschtschenko/index.html

[11] Zur Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft und ihrer Entschädigungs- und Versöhnungsarbeit https://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/leistungen/direktleistungen/leistungsprogramm/index.html Einige der Zwangsarbeiter wurden von der Zwangsarbeiterinitiative des Historikers und Lehrers Dr. Bernhard Lehmann und den Schülern des Paul-Klee-Gymnasiums Gersthofen auf seinen 6 Versöhnungsreisen in die Ukraine mit symbolischen Summen von  750 bis 1500 Euro ausgestattet. Seine Berichte sind unter www.zwangsarbeit-gersthofen.de  einsehbar, ebenso im Gedenkbuch Augsburg: https://gedenkbuch-augsburg.de/opfergruppen/zwangsarbeiter/. Er konnte die folgenden in Bobingen tätig gewesenen Zwangsarbeiter besuchen: Alexandra Bespatjia, geb. Timtschenko; Alexander Bojko; Giorgio Gregori; Maria Lawrenko; Aldo Moscatelli; Olexandr Natotschji; Nina Roschtschina, geb. Moskalenko und Walentina Woronkowa.